„Angst in die Schule zu gehen“

Zehn Jahre nach Beginn der Syrien-Krise schildern Kinder und Lehrer die Schrecken der Anschläge auf Schulen und deren Folgen.

Während der 10 Krisenjahre in Syrien wurden Tausende von Schulen bombardiert und beschädigt oder gar zerstört, und zahlreiche Lehrer und Schüler wurden getötet. Eine von drei Schulen in Syrien ist inzwischen unbenutzbar und mehr als ein Drittel aller Kinder – 2,4 Millionen – gehen noch immer nicht zur Schule. Die psychologischen Narben dieser Angriffe auf Schulen beeinträchtigen weiterhin das Lernen der Kinder und werden für die kommenden Generationen spürbar sein, es sei denn, die Kinder werden begleitet und bei ihrer Genesung unterstützt.

 

Das Bildungsprogramm von Islamic Relief im Nordwesten Syriens hat zum Ziel, beschädigte Infrastrukturen zu reparieren und wieder aufzubauen, Schreibwaren und anderes Material bereitzustellen und Wasserversorgungs- und Abwasseranlagen zu bauen. Im letzten Jahr haben wir 12 Schulen unterstützt.

Islamic Relief, die Schulen im Nordwesten Syriens unterstützt, hat Kinder und Lehrer befragt, die tödliche Angriffe auf ihre Schulen überlebt haben. Hier schildern sie ihre Erlebnisse:

Ahmed Mahmoud *, Direktor von Islamic Relief in Syrien, sagt: „Während einem Jahrzehnt wurde in Syrien eine ganze Generation von Kindern in Mitleidenschaft gezogen. Schulen sollten sichere Orte sein, aber viele von ihnen wurden zum Schauplatz von Blutvergiessen. Als Folgen auf die Angriffe auf Schulen haben viele Kinder immer noch Albträume, können sich nicht konzentrieren und haben Angst, während sie im Klassenzimmer sitzen. Trotzdem wollen syrische Kinder unbedingt lernen. Wir müssen handeln und sicherstellen, dass die Kinder wieder in Sicherheit lernen können

Amir*, 15, wurde bei einem Bombenangriff in einem Schulgebäude eingeschlossen

„Wir waren im Unterricht, als die Explosionen plötzlich näher kamen. Wir hörten das  laute Geräusch eines Flugzeugs, das anfing die Schule zu bombardieren. Die Fenster zerbrachen und die Türen flogen weg. Der Lehrer sagte uns, dass wir nicht rausgehen sollen. Wir legten uns auf den Boden und versteckten uns unter den Bänken. Ich blieb ungefähr eine halbe Stunde, bis die Beschüsse aufhörten und rannte dann schnell nach Hause. Wir haben alle Bücher und Schulsäcke hinter uns gelassen. Ich sah meine Mutter weinend und barfuss auf der Strasse nach mir suchend. Sie drückte mich an sich und weinte, da sie Angst hatte, ich sei von den Bomben getroffen worden.  Es war für mich der schwierigste Moment, den ich je erlebt habe. Ich kann mich nicht mehr auf das Lernen konzentrieren. Wenn ich schlafe, träume davon wie mein Dorf bombardiert wird und ich mit meinem Vater und meinen Brüdern fliehe. ”

Amirs Familie ist aus der Gegend geflohen und er besucht jetzt eine andere Schule, eine die von Islamic Relief unterstützt wird. „Was ich an dieser Schule mag, ist, dass die Lehrer nett sind, dass sie die Schüler gut behandeln und ihnen einen guten Unterricht geben. Nach zehn Jahren Krise in Syrien hoffe ich auf Frieden und dass ich in mein Dorf zurückkehren, mein Studium abschliessen und später Arzt werden kann.

Sara * ist eine Lehrerin, die 2016 einen der tödlichsten Angriffe auf eine Schule im Dorf Hass in Idlib, bei dem zahlreiche Kinder ums Leben kamen, überlebt hat.

„Das Blut der Kinder war auf ihren Heften und Stühlen. Plötzlich kam die Schule unter Beschuss und die Leichen von Kindern und Lehrern vermehrten sich. Der Ort war voller Blut und dem Schreien der Kinder, es war eine schreckliche Szene. Eltern eilten zur Schule, um ihre Kinder zu retten, aber auch sie wurden bombardiert. Als wir uns der verletzten Schüler annahmen, wurden wir von einem zweiten Flugzeug überrascht, das die Schule erneut bombardierte. Ich rede von 40 Kindern, die getötet wurden. Dieses Ereignis brach den Lehrern in Nordsyrien das Herz.

Nach zehn Jahren Syrienkrise hat die Angst eine immense Auswirkung auf die Bildung. Kinder haben Angst, zur Schule zu gehen, und auch Lehrer haben Angst, dass Schulen bombardiert werden könnten, während sie dort sind. Der Schüler fragt sich: “Wann kommt ein Kampfflugzeug, um meine Schule zu bombardieren?” Eltern fürchten um ihre Kinder und beten zu Gott, dass Er sie und ihre Schule vor den Bombenangriffen beschützen möge. Sie verbringen ihre Tage in Angst, bis zur heilen Rückkehr ihre Kinder nach Hause. Sobald ein Lehrer das Geräusch des Flugzeugs hört, kann er sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren und beginnt darüber nachzudenken, was er tun wird. Ich versuche, die Angst der Schüler zu reduzieren, aber sie bleibt vorhanden, egal wie sehr ich sie vom Lärm der Flugzeuge abzulenken versuche. Mir ist bewusst, dass wir jederzeit bombardiert werden können, und das wissen auch die Schüler. Die Kinder von heute sind die nächste Generation, die unter psychische Probleme leidet und in der Schule scheitert. Es gibt Schüler in der neunten Klasse, die weder gut lesen noch schreiben können. Wir stehen aber auch noch vor anderen grossen Herausforderungen. Die Schulen sind fast zerstört, es gibt keine Fenster in den Klassenzimmern, die Sitze sind kaputt und können nicht von den Schülern benutzt werden. Schulmaterial wie Schreibwaren, Taschen und Hefte können wir den Schülern nicht zur Verfügung stellen. Die Lehrer arbeiten seit mehreren Jahren ehrenamtlich ohne Bezahlung. Aufgrund von Vertreibungswellen sind die Schulen zudem überfüllt. ”

Najah *, 13, sah, wie sein Bruder in der Schule ein Auge verlor

Ich war im Unterricht in der Dorfschule, als die Bombardierung begann. Der zweite Flügel der Schule wurde abgerissen und viele Kinder wurden verletzt. Viele Kinder wurden voneinander getrennt und mein 12-jähriger Bruder hat deswegen ein Auge verloren. Mein Vater hat ihn ins nächste Krankenhaus gebracht. Wir sind mehrmals geflohen und ich habe die Schule für drei Jahre abgebrochen. Jetzt gehe ich wieder zur Schule. Ich lernte gemeinsam mit meinen Freunden, aber ich habe sie verloren – hier kenne ich niemanden ausser zwei oder drei anderen neuen Schülern. Mein Traum ist es, Lehrer oder Arzt zu werden. Ich mag die Schule, weil sie ein Ort ist, um Lesen und Schreiben und schöne Dinge zu lernen. Ich habe Angst vor Flugzeugen – Kriegsflugzeugen. Wenn ich das Geräusch eines Flugzeugs höre, habe ich grosse Angst. In meinen Albträumen sehe ich, wie ein Kriegsflugzeug uns bombardiert und meine Mutter oder mein Vater getötet werden.

* Die Namen wurden zum Schutz der Personen abgeändert